Wer oder was ist schuld am Wahlergebnis?

 

Am 10. Februar 2009 fanden die Wahlen zur 18. Knesset statt. Von den 33 Parteinen und Listen, die sich an der Wahl beteiligten, sind 12 im neuen Parlament vertreten: Kadima unter Führung von Z. Livni mit 28 Sitzen (23% der abgegebenen Stimmen); Likud unter Führung von B. Netanjahu mit 27 Sitzen (21%); Yisrael Beytenu unter Führung von. A. Lieberman mit 15 Sitzen (12%); die Arbeitspartei unter Führung von E. Barak mit 13 Sitzen (10%); Shas mit 11 Sitzen (9%); United Torah Judaism mit 5 Sitzen (4%); United Arab List – Ta’al mit 4 Sitzen (4%); National Union (u.a. aus Teilen der früheren Nationalreligiösen Partei hervorgegangen) mit 4 Sitzen (3%); Hadash mit 4 Sitzen (3%); Meretz/The New Movement mit 3 Sitzen (3%); Jewish Home (Nachfolger der Nationalreligiösen Partei) mit 3 Sitzen (3%); und Balad mit 3 Sitzen (3%).

Teile der Öffentlichkeit und der politischen Führung sind mit dem Wahlergebnis unzufrieden. Das gilt nicht nur für die eindeutigen Verlierer, wie zum Beispiel Meretz,  sondern auch für erfolgreichere Kandidaten. Zippi Livni konnte Benjamin Netanjahus großen Vorsprung in den Meinungsumfragen in wenigen Wochen nicht nur aufholen, sondern sogar übertrumpfen. Dennoch ist sie nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Der Likud hat zwar wesentlich weniger Sitze erhalten, als noch wenige Monate vor den Wahlen aufgrund von Meinungsumfragen wahrscheinlich schien, aber Netanjahu als der Führer der zweitgrößten Fraktion könnte ohne weiteres eine rechte Mehrheitsregierung bilden. Allerdings hätte Netanjahu aus Imagegründen (vor allem Blick aufs Ausland) gerne die Arbeitspartei oder vorzugsweise Kadima in seiner Regierungskoalition. Die beiden erwünschten Koalitionspartner rechnen sich gegenwärtig noch bessere Chancen in der Opposition aus, was die Koalitionsverhandlungen hinzieht. Dies wiederum verärgert die rechten und religiösen Parteien, die sich als Netanjahus „natürliche“ Koalitionspartner sehen. Eine Ausnahme bildet Yisrael Beytenu (Lieberman), die glauben sich ihrer Beteiligung an der Regierung sicher sein zu können.

Angesichts der dringenden Probleme (insbesondere ist die Situation in Gaza immer noch nicht geklärt, und die Finanzkrise zieht immer weitere Kreise), deren Lösung eine handlungsfähige Regierung benötigt, gibt der langwierige Prozess der Regierungsbildung Anlass zu kritischen Debatten in der Öffentlichkeit. Wer oder was ist schuld daran, dass das Wahlergebnis nicht eindeutig genug ist, um die Regierung schnell zu bilden? Diese Debatten überschneiden und vermischen sich mit einem zweiten Fragenkreis. Warum hat die zionistische Linke (Meretz und Arbeitspartei) so schlecht in den Wahlen abgeschnitten, oder anders ausgedrückt, warum war die Rechte, und insbesondere Lieberman mit Yisrael Beytenu so erfolgreich? Dabei steht weniger eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit politischen Inhalten im Zentrum als Fragen des „Systems“  und verschiedener daran beteiligen Kandidaten  und/oder Wahlberechtigen. Zum Teil liegt dies wohl daran, dass solche Debatten die Gelegenheit bieten, langerprobte Dauerthemen erneut aufzugreifen.

So ist eine der Forderungen, dass die Prozenthürde für die Vertretung in der Knesset angehoben werden muss, um die parteipolitische Zersplitterung einzudämmen. Dabei wird argumentiert, dass winzige Fraktionen, die für die Regierungsbildung benötigt werden, in der Lage sind die Mehrheit zu erpressen. Diese Kritik, die weit verbreitet ist, wurde in der Vergangenheit meist gegenüber den religiösen Parteien erhoben. Allerdings mag fraglich sein, ob dies wirklich ein Problem ist. Nach der gegenwärtigen Regelung muss eine Partei oder Liste mindestens 2 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten, um in der Knesset vertreten zu sein. Zwei an den Wahlen teilnehmenden Parteinen können ein Abkommen treffen, wonach die für sie abgegebenen Stimmen, die nicht für einen weiteren Sitz der jeweiligen Partei ausreichen, addiert und einer der beiden Parteien zugerechnet wird. Falls die Stimmen ausreichen, erhält diese Partei einen weitern Sitz. Dies ist eine weitverbreitete Praxis, Voraussetzung ist allerdings, dass die beiden Parteien mit ihren eigenen Stimmen, die Prozenthürde nehmen. Die Stimmen für die Parteien/Listen, die diese Hürde nicht nehmen, zählen bei der allgemeinen Berechnung der Anzahl der Stimmen, die für einen Knessetsitz benötigt werden, nicht.  Damit sind die großen Parteien die hauptsächlichen Nutznießer im Falle einer Vielzahl von kleinen Parteien, die die Hürde nicht erreichen.

Bei den gegenwärtigen Wahlen erhielten die 22 kleinen Parteien/Listen, die nicht in die Knesset gekommen sind, ausgesprochen wenige Stimmen. Nur Green Movement/Meimad (unter der Führung von Rabbiner Michael Melchior) und Gil (Rentner) erreichten je ein Prozent der abgegebenen Stimmen. Zwar erhielten sieben der in der Knesset vertretenen Parteien weniger als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen, aber es gibt bisher keine Anzeichen dafür, dass (übertriebene) Forderungen der drei für Netanjahu als Partner in Frage kommenden kleinen Parteien (United Torah Judaism, Jewish Home und National Union) die Koalitionsbildung in irgend einer Form behindern oder verzögern. Die anderen kleinen Parteien (Meretz, Hadash, United Arab List-Ta’al und Balad) werden für die Regierungsbildung nicht in Betracht gezogen. Sollte die Prozenthürde zum Beispiel auf fünf Prozent angehoben werden, müsste – unter den gegenwärtigen Umständen – Meretz sich wohl zwischen einem Zusammenschluss mit der Arbeitspartei oder mit Hadash entscheiden (oder spalten), und Balad zwischen Hadash und der United Arab List.

Als weiterer Problemfaktor wurden Wahlberechtigte, die von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch machen, ausgemacht.  Die Wahlbeteiligung ist ein Dauerthema, dass seit vielen Jahren bei jeden Wahlen Gegenstand der öffentlichen Debatte ist. Das regnerische Wetter, das dazu einlädt, zu Hause zu bleiben, statt zur Wahlurne zu gehen, der spezielle Aufruf von Staatspräsidenten Shimon Peres, sich an den Wahlen zu beteiligen,  und die Medienaufmerksamkeit, die kleinen Privatinitiativen zur Förderung der Wahlbeteiligung  (wie zum Beispiel die Verteilung von Schokoküsse an Leute, die gewählt haben) sowie den Stimmen derer, die bereit waren zu erklären, warum sie nicht wählen,  zukam, trugen zur Aktualität dieser Frage bei den Knessetwahlen im Februar bei.  Auf die Frage, in wie weit es sich dabei um ein wirkliches Problem handelt, lässt sich keine eindeutige Antwort geben. Insbesondere bestehen Unterschiede in bezug auf die Wahlbeteiligung der mehrheitlich jüdischen Bevölkerung und der palästinensischen Minderheit (s.u.).

Nach den offiziellen Angaben waren ca. 5, 279 Millionen Menschen wahlberechtigt und ca. 3,417 Millionen (65,2 Prozent) haben gewählt. D.h. fast 1,9 Millionen haben von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht. Allerdings berücksichtigen die offiziellen Zahlen diejenigen Israelis nicht, die permanent oder vorübergehend im Ausland sind. Wie viele Israeli im Ausland leben ist mangels offizieller Zahlen Gegenstand von Spekulation. Nach konservativer Schätzung handelt es sich dabei mindestens um eine halbe Million Menschen. Nach israelischem Wahlrecht gibt es keine Briefwahl; gewählt werden kann in der Regel nur am eigenen Wohnort in Israel (Ausnahmen gelten für im Ausland arbeitende Diplomaten, Soldaten, Gefangene und Kranke). Somit ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Zahl derer, die nicht gewählt haben, unter 1,4 Millionen liegt. Wenn weiterhin in Betracht gezogen wird, dass die Wahlbeteiligung der palästinensischen Bevölkerung (etwa ein Fünftel der israelischen Bevölkerung) mit ca. 53 Prozent unterhalb der allgemeinen Wahlbeteiligung lag, kann angenommen werden, dass die Wahlbeteiligung der übrigen Bevölkerung etwas über 75 Prozent lag. Das kann wohl nicht an sich als niedrige Wahlbeteiligung angesehen werden.

Es wird jedoch angenommen, dass es sich bei denjenigen, die nicht zur Wahl gegangen sind, weitgehend um potentielle Wähler der Arbeitspartei und vor allem Meretz handelt. In diesem Zusammenhang berührt und in gewisser Weise verdeckt die Debatte über die Wahlbeteiligung ein anderes Problem, das wohl als eine Art der Politikverdrossenheit bezeichnet werden kann.

Ein deutliches Symptom sind die vielen unentschlossenen Wähler, von denen nicht wenige bis zum letzten Augenblick nicht wussten, für wen sie sich entscheiden sollen. Auch sind die vielen kleinen Parteien oder Listen sowohl Ausdruck als auch Folge dieser Situation. So hat zum Beispiel Gil, die „Rentnerpartei“ in den Wahlen 2006 davon profitiert (7 Knessetabgeordnete), dass viele, vor allem junge Wähler fanden, dass die großen Parteien keine wirklichen politischen Alternativen bieten, und sich entschlossen, für eine „gute Sache“ zu stimmen. Das selbst von Kritikern unvorhergesehene Ausmaß ihres Versagens in den letzten drei Jahren kostete Gil ihr Ansehen in den Augen der potentiellen Wähler (Gil erhielt ein Prozent der Stimmen). Aber der Erfolg von 2006 hat wohl andere kleine Initiativen dazu ermutigt, sich in der Hoffnung auf ein ähnliches Wunder im Februar 2009 zur Wahl zu stellen.

Die Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung der palästinensischen Bevölkerung sind konkreter. Während in den Kommunalwahlen die Wahlbeteiligung weit über dem allgemeinen Durchschnitt liegt, ist die Beteiligung bei Knessetwahlen (55 Prozent in 2006) meist unter dem Durchschnitt, nicht zuletzt weil die Vertretung in der Knesset kaum konkrete Erfolge verspricht. Arabische Parteien werden in der Regel nicht an der Regierung beteiligt, und die Knessetabgeordneten haben wenig Möglichkeiten die Belange ihrer Wähler effektiv zu fördern. Im Wahlkampf zu den letzten Knessetwahlen zeichnete sich ein noch deutlicherer Trend zum Boykott ab. Nach verschiedenen Einschätzungen wurde sogar mit lediglich 45 Prozent Wahlbeteiligung gerechnet.  Neben den „Söhnen des Dorfes“ und der nördlichen Sektion der islamischen Bewegung, die schon immer aus prinzipiellen Gründen eine Beteiligung an den Wahlen ablehnen, weil dies den zionistischen Staat legitimiert, haben auch viele andere Kreise ernsthaft in Betracht gezogen, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen.

Ein wichtiger Faktor in dieser Entwicklung war die Entscheidung des Wahlausschusses der Knesset, der mit großer Mehrheit beschloss, die United Arab List und Balad von den Wahlen auszuschließen.  Nach dem Grundlagengesetz der Knesset kann von den Wahlen ausgeschlossen werden, wer die Existenz Israels als Staat des jüdischen Volkes negiert, wer den demokratischen Charakter des Staates negiert, oder wer zu Rassismus aufwiegelt.  Ein zentrales Argument für den Ausschluss der beiden Listen/ Parteien war, dass sie fordern, dass „Israel ein Staat aller seiner Bürger sein soll.“ Die Entscheidung des Wahlausschusses wurde zwar durch das Oberste Gericht wieder aufgehoben,  aber weite Teile der palästinensischen Bevölkerung sahen und sehen in der Entscheidung des Wahlausschusses vor allem die erklärte Entschlossenheit der Mehrheitsgesellschaft sie auszuschließen.

Dieser Eindruck wurde nicht nur im Folge der Militäroffensive in Gaza verstärkt (die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung war gegen den Angriff, während die überwältigende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung die Offensive unterstützte), sondern auch durch die Duldung von rechtsextremen Provokationen. Dazu gehört u.a. eine Entscheidung des Obersten Gerichts, die es einer Gruppe um Baruch Marzel, einem ehemaligen Mitglied der als rassistisch verbotenen Kach Partei, erlaubt durch Umm al-Fahm, einer Stadt mit ganz überwiegend palästinensischer Bevölkerung, zu marschieren.  Die Polizei hat diesen Marsch bisher immer wieder mit dem Hinweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verhindert, aber er ist weiterhin geplannt.

Auch hat sich Marzel zum Vorsitzenden des Wahlausschusses in einem Wahllokal in Umm al-Fahm ernennen lassen. Nach der gesetzlichen Regelung müssen in jedem lokalen Wahlausschuss mindestens drei Parteien vertreten sein. Unter der Annahme, dass Parteien in Wahllokalen präsent sein wollen, in denen sie viele Stimmen für ihre Partei erwarten, hat die Regelung primär das Ziel, den Parteien die Recht zu garantieren, in den für sie interessanten Wahllokalen durch einen Repräsentanten anwesend zu sein. In diesem Zusammenhang wird zum Beispiel als möglicher Missbrauch, der zum Ausschluss führt, der Fall genannt, in der die Anwesenheit einer Person im Wahllokal, geeignet ist die für seine Partei abgegebenen Stimmen zu erhöhen. Die Möglichkeit, dass eine Partei einen Vertreter in den Ausschuss eines Wahllokals schickt, in dem sie gar keine Wählerstimmen erwartet, wurde bei der Regelung nicht in Betracht gezogen. Gleichzeitig ist der Vorsitzende des lokalen Wahlausschusses besonders wichtig, weil er im Zweifel über die Gültigkeit einer Stimme entscheidet. Obwohl es sich um eine offensichtliche Provokation handelte,  wurde Marzels Ernennung zum Vorsitzenden des lokalen Wahlausschusses auch im Prüfungsverfahren mit dem Hinweis darauf, dass es keinen gesetzliche Grundlage für einen Ausschluss gibt, aufrecht erhalten.  Die Polizei hat am Wahltag jedoch Marzels Anwesenheit und die seines danach entsendeten Vertreters aus Gründen der öffentlichen Sicherheit unterbunden. 

Diese Art von Ereignissen und Avigdor Liebermans aggressive anti-palästinensische Wahlkampagne haben einerseits die Boykott-Bewegung gestärkt. Andererseits sind Angehörige der palästinensischen Minderheit gerade deswegen trotz ihrer Bedenken zur Wahl gegangen. Im Ergebnis sank die Wahlbeteiligung nur leicht (von 55 auf 53 Prozent), während der Anteil für zionistische Parteien deutlich zurückgegangen ist. In der Vergangenheit gab es relativ viele Stimmen für solche Parteien. So erhielt zum Beispiel die Nationalreligiöse Partei (NRP) viele palästinensische Stimmen, als sie traditionell den Innenminister stellte. Als Shas dieses Amt übernahm, erhielten sie ähnliche Unterstützung in den Wahlen. In den Wahlen im Februar erhielten Kadima und die Arbeitspartei in vielen Orten mit überwiegend palästinensischer Bevölkerung weniger Stimmen als die Anzahl der Personen, die für die Primaries der jeweiligen Partei dort eingetragen waren.  Die Änderung des Wahlverhaltens erklärt auch die Zunahme der Knessetsitze der Parteien, die die Belange der palästinensische Bevölkerung vertreten, trotz der gesunkenen Wahlbeteiligung. Es dürfte allerdings fraglich sein, ob angesichts der allgemeinen Zusammensetzung der Knesset eine konstruktive Zusammenarbeit möglich ist.



Ursula Wokoeck

2. März 2009